Rumors and Violence in Russia (1850-1950)


Das Gerücht als Quelle und als historische Erscheinung wurde bis vor kurzem von Historikern mit seltenen Ausnahmefällen ignoriert. Sie verließen sich dabei auf die Meinungen von Experten aus der Soziologie und Psychologie, die besagten, dass Gerüchte nur einen Informationsersatz oder ein Spiegel des kollektiven Unbewussten darstellen. Die Skepsis von historiographischer Seite ist verständlich, denn ein Gerücht hat den Status einer sehr "weichen" Quelle, einer Erscheinung, die für eine wissenschaftliche Analyse zu schwammig ist und hauptsächlich in vormodernen Gesellschaften vorkommt. - Ziel dieses Projektes ist es, diese gängigen Klischees zu überwinden. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive wird das Gerücht als ein Medium informeller Kommunikation betrachtet, das für jede Gesellschaft gerade in Zeiten von Erschütterung und Veränderung zentral ist. - Gerüchte spiegeln zwar teilweise die Realität wider, schaffen aber darüber hinaus eine neue Wirklichkeit, indem sie die wichtigsten Ängste und Hoffnungen der Menschen ausdrücken, unerklärlichen Ereignissen einen Sinn verleihen und eine Grenze zwischen dem "Eigenen" und dem "Fremden" ziehen. Gerüchte haben also die Funktion, einerseits eine persönliche Identität zu schaffen und Gemeinschaft herzustellen und dabei andererseits das Fremde auszugrenzen. Weiter kann das Gerücht als Instrument einer alternativen, oppositionellen Wirklichkeitsdeutung Menschen zusammenführen und sie zum Widerstand und zur Gewaltausübung mobilisieren. - Gewalt wird im Rahmen des Projekts als die menschliche Fähigkeit verstanden, andere Personen einer physischen oder einer symbolischen Macht zu unterwerfen und ihnen körperlichen oder psychischen Schaden zuzufügen. Am Beispiel einer der dramatischsten Perioden der russischen Geschichte - vom Krim-Krieg bis zum Tod Stalins (1853-1953) - wird die Wechselwirkung zwischen Gerüchten und Gewalt untersucht, die in diesem Zeitraum die Wahrnehmung der politischen Akteure und deren Handlungen prägte sowie die Praxis staatlicher Herrschaft beeinflusste. - Ziel des Projektes ist es zu analysieren, wie das Kommunikationsmedium des Gerüchts und der Gewalt politische Großereignisse strukturierten. Dabei wird epochenübergreifend gearbeitet: Es soll über die Zäsur von 1917 hinaus gezeigt werden, welche Kontinuitäten in der sozialen und politischen Praxis zu beobachten sind, aber auch welchem Funktionswandel Gerüchte unterlagen.


Principal investigators
Baberowski, Jörg Prof. Dr. (Details) (History of Eastern Europe)

Financer
DFG Individual Research Grant

Duration of project
Start date: 01/2008
End date: 06/2014

Last updated on 2025-15-01 at 21:46