VA: Das Interdikt in der europäischen Vormoderne (Internationale Wissenschaftliche Veranstaltung vom 27.04.-29.04.2017)


Das kirchliche Strafmittel des (Lokal-)Interdikts im Sinne eines temporären Seelsorgeentzugs in einem bestimmten räumlich abgegrenzten Gebiet (Kirche, Stadt, Diözese, Herrschaftsterritorium) gehört zweifelsohne zu den am wenigsten erforschten und rätselhaftesten Phänomenen der vormodernen Kanonistik, Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte. Dabei nahm das Interdikt neben der Exkommunikation seit dem Hochmittelalter im Ringen zwischen sacerdotium und imperium, geistlicher und weltlicher Gewalt, eine zentrale Rolle im kirchlichen Sanktionsarsenal ein. Solche klerikalen Boykottmassnahmen, die das heilstiftende Räderwerk der Gottesdienste und Sakramentenspendungen zu einem jähen Stillstand brachten oder bringen sollten, betrafen ganze Königreiche (z.B. Frankreich 1200, England 1208-1214, Römisch-deutsches Reich 1324-1347), wenn Päpste und Kaiser/Könige um (kirchen-)politische Vorrechte stritten, weitaus häufiger aber einzelne Territorien und Städte, die zuweilen Jahre oder sogar Jahrzehnte unter spiritueller Quarantäne standen (z.B. Lübeck 1299-1317, Straßburg 1328-1353, Florenz 1376-1378, Wittenberg 1512-1515). Schon allein die Häufigkeit seiner Verhängung lässt diese Beugestrafe als nicht zu vernachlässigenden Faktor der hoch- und spätmittelalterlichen Alltagswirklichkeit erkennen: Das ‚heilige Köln‘ war zwischen 1119 und 1520 19 Mal interdiziert, Florenz zwischen 1100 und 1512 17 Mal und Basel im 14. Jahrhundert sieben Mal. Die einzige flächendeckende Untersuchung von Hans Dix aus dem Jahr 1910 für das „ostelbische Deutschland“ ergab 130 Interdikte zwischen 1215 und 1512. Kurzum: Das Interdikt ist vom hohen Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein ein europaweit greifbares Phänomen, dessen historische Bedeutung und Ausmaße mit Blick auf die Basisdaten – Zielorte und Geltungsdauer der Interdiktssentenzen – nicht einmal ansatzweise bekannt sind. Gleichwohl lässt sich auf der Grundlage des vergleichsweise schmalen Forschungsstands festhalten: Der spirituelle Ausnahmezustand gehörte fest zum Erfahrungshorizont insbesondere des stadtsässigen vormodernen Europäers und ist damit aus der liturgischen und frömmigkeitspraktischen Lebenswelt Lateineuropas nicht wegzudenken. Die geplante internationale Konferenz wird erstmals ausschließlich und europäisch vergleichend das analytische Potenzial des Interdikts als spezifisch vormodernes Querschnittsphänomen ausloten, das gleichermaßen kirchen-, rechts- und allgemeinhistorische Perspektiven eröffnet. Hierbei stellt sich die vordringliche Aufgabe, ein Forschungsfeld zu kartieren, das zwar vereinzelt bereits kanonistisches wie auch regional- und lokalhistorisches Interesse auf sich gezogen hat, im Hinblick auf sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen aber noch nicht hinreichend systematisiert erscheint. Dabei ergeben sich gerade aus der temporären Suspendierung des sakralen Alltags dynamische Prozesse der Remodellierung von Funktionsbeziehungen und -erwartungen in der Interaktion von geistlicher und säkularer Gewalt. Jenseits einer reinen Konfliktgeschichte zwischen Klerus und Welt stellte der spirituelle Ausnahmezustand des Interdikts eine Entzieh- und Verhandelbarkeit von kirchlichen Ritualen, Symbolen und Praktiken in den Raum, die amtskirchliche Exklusivansprüche prekär werden ließen und den betroffenen Obrigkeiten, Gemeinden und Individuen alternative Spielräume der Heils- und damit Daseinsvorsorge sowie der publizistischen Selbstverortung eröffneten. Um diesem Dreiklang von kirchenrechtlichen Normen, sozialen bzw. religiösen Praktiken und diskursiver Auseinandersetzung im Umgang mit dem Seelsorgevakuum gerecht zu werden, wird die Konferenz internationale Expertinnen und Experten aus den Fachgebieten der Kanonistik, der Stadt-, Frömmigkeits- und politischen Diskursgeschichte am Deutschen Studienzentrum in Venedig versammeln. Die Lagunenstadt mit ihrem ureigenen genius loci als Schauplatz des letzten großen europäischen Interdikts der Jahre 1606-1607 bietet für die Premiere einer allein dem Interdikt gewidmeten Konferenz einen denkbar passenden Rahmen.


Principal investigators
Jaser, Christian (Details) (Medieval History)

Financer
DFG: Sonstiges

Duration of project
Start date: 01/2017
End date: 06/2017

Research Areas
Early Modern History, Medieval History

Last updated on 2022-22-11 at 04:05