Cotton Republic Tadzhikistan? Central Planning and local Society, 1946-1991


Ziel des Projektes ist es, die alltägliche Funktionsweise der sowjetischen Planwirtschaft anhand eines lokalen Beispiels aus der südlichen Peripherie der Sowjetunion zu untersuchen. Das Projekt will durch lebensgeschichtliche Interviews die Biographien von Mitarbeitern sowjetischer Landwirtschaftsbetriebe in Tadschikistan nachzeichnen und sie mit regionalen und überregionalen Archivdokumenten abgleichen. So sollen in einer umfassenden Mikrostudie die wirtschaftlichen Aktivitäten der Landbevölkerung dicht beschrieben werden. In den Agrarbetrieben Tadschikistans arbeiteten Angehörige unterschiedlicher ethnischer und regionaler Herkunft zusammen, da der sowjetische Staat zur Forderung des Baumwollanbaus Menschen aus allen Teilen Tadschikistans und aus anderen Regionen der Sowjetunion in die tadschikischen Baumwollplantagen umsiedelte. Dabei - so lautet die Ausgangshypothese des Projekts - setzten die verschiedenen Herkunftsgruppen an ihrem neuen Wohnort einerseits traditionell bewährte Wirtschaftspraktiken fort (wie etwa die Produktion von Trockenfrüchten und die Seidenraupenzucht) oder sie besetzten neuentstehende wirtschaftliche Nischen (beispielsweise den Handel mit Zitrusfrüchten), um den Zwängen des staatlich verordneten Baumwollanbaus zu entgehen.

Dem sowjetischen Staat gelang es auch langfristig nicht, die Bauern Tadschikistans vollständig in die zentral geplante Baumwollwirtschaft einzubinden. Tätigkeiten, denen die Bauern im offiziellen Privatsektor oder in der Schattenwirtschaft nachgingen, waren oft einträglicher als die Arbeit in der Baumwollproduktion der staatlichen Landwirtschaftsbetriebe. Auch waren die relativ guten Verdienstmöglichkeiten im halboffiziellen und inoffiziellen Agrarsektor eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass die einheimische ländliche Bevölkerung nicht in die Industriebetriebe oder die Städte abwanderte. Zum wirtschaftlichen Erfolg der Zitronenhändler, der Aprikosenbauern und der Pfirsichgärtner trugen lokale und familiäre Solidargemeinschaften wesentlich bei. Selbst Verwandte und Angehörige der Bauern, die im Staats- und Parteiapparat arbeiteten, unterstützten und protegierten die halblegalen und illegalen Aktivitäten von Mitgliedern ihrer Herkunftsgruppe. Alltagspraktiken, die im wirtschaftlichen Interesse einer bestimmten Solidargemeinschaft waren, gingen dabei oftmals zu Lasten des staatlichen Baumwollsektors. Die Bauern nutzten die für den Baumwollanbau bestimmten Ressourcen wie Boden, Wasser und Düngemittel für die Zwecke ihrer Solidargemeinschaft. Das Projekt will die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung seit dem Ende des zweiten Weltkriegs beschreiben und analysieren.

Die eigensinnigen Wirtschaftsformen und Alltagspraktiken der lokalen Bevölkerung können erst verständlich werden, wenn man sie als Ergebnisse eines kontinuierlichen Prozesses der Weltdeutung und Weltaneignung lokaler Bevölkerungsgruppen mit der langlebigen Tradition heterogener ländlicher Solidargemeinschatten verortet. Gleichzeitig aber fanden die Bauern Mittel und Wege, mit der planmäßig organisierten Arbeit in den sowjetischen Agrarbetrieben vertraut zu werden. Das Projekt fragt darum: Welchen Sinn gaben die Bauern Tadschikistans ihrem "sozialistischen" Alltag? Hielten sie an bewährten Wirtschaftspraktiken fest, weil sie meinten, sich nach der Umsiedlung am neuen Wohnort von konkurrierenden Gruppen unterscheiden zu müssen? Warum machten alternative Tätigkeiten scheinbar mehr Sinn als die Beschäftigung in der zentralstaatlich organisierten Baumwollproduktion? Schließlich stellt sich die Frage, ob die Züchter von Seidenraupen, die Zitronenhändler oder die Pfirsichgärtner langfristig zu den wirtschaftlichen Gewinnern oder Verlierern der Baumwollrepublik Tadschikistan gehörten.

Principal investigators
Baberowski, Jörg Prof. Dr. (Details) (History of Eastern Europe)

Financer
Volkswagen-Stiftung (VW)

Duration of project
Start date: 06/2011
End date: 03/2015

Last updated on 2022-08-09 at 05:09